Einakter

Alles, was die zwölf Zeilen überschreitet - aber auch noch nicht an die Länge der Slamgedichte/die Vortragsdauer von drei Minuten (oder mehr) heranreicht.

Herbsterben & das sechshundertachtundsiebzigste Gedicht

Herbstlaub

Ein Letztes

Dieses Feld trägt noch immer die Sonne
Doch es hat sich im Kopf schon getrennt
Es strahlt in der üppigsten Wonne
Die sich in sich selber verbrennt
Noch wabert die fröhliche Zeit
Im frecher fröstelnden Dunst
Schon greift vom Waldrand aus weit
Des Winters grobe Kunst
Der malt ohne Farben
Schon löscht er, was bunt
Wir jedoch haben
Noch ohne Grund
Angst ums Jetzt - es
Hält sich matt
Manch letztes
Blatt

- Mehr Herbstgedichte -

Tate Modern & das sechshundertsechsundsechzigste Gedicht

Tate Modern

666

Lass unsrer Körper Rohheit noch weiter vergröbern
In Stumpfheit und Dumpfen akribischstens stöbern
Unsre Eintönigkeit soll vernichtender wüten
Und fortwährend nur das Entsetzlichste brüten

Uns verfinstert die Schwärze von Abgrund und Fäule
Das Schnauben der apokalyptischen Gäule
Wir woll'n rücksichtslos jedweden Zustand zerstören
Und uns dem Ruin wie dem Abgrund verschwören

Unser katastrophales Dahinvegetieren
Wird tödliche Unruhe kontaminieren
Und den tödlichen Wahn, auf dem lässig wir gleiten
Besprenkeln bald Gehässigkeiten

Wir sind von neuem Unglück erschütterte Wesen
Von Qualen und Fürchterlichkeiten erlesen
Anstatt zerbrechlich woll'n wir nun verbrecherisch sein
Und Widerwärtigkeiten spei'n

Von verzagenden Balken ward unlängst berichtet
Die grundlos von Armut zugrunde gerichtet
Man beklagt sich bei uns sichtlich entrüstet: "Warum?"
Drum.

Ammersee Südspitze & das sechshundertsiebenundfünfzigste Gedicht

Ammersee Südspitze

Der Kuss

"Hilf mir! Hilf!", rief's aus dem Schilf
"Ich bin 'ne verwunsch'ne Milf!
Nur ein Kuss kann mich erlösen
Von dem Fluch, der einem bösen
Zauberer dereinst entfuhr!"

Ich besann mich, rief retour:
"Böte ich um deiner Nöte
Meine Lippen dar dir, Kröte
Wäre es nicht nachgerade
Um den raren Zauber schade
Der dem Ufer innewohnt?

Wie würd' uns solch Schritt gelohnt
Sagte ich: 'Okay, da helf i!'?
Zur Erinn'rung gäb's ein Selfie -
Doch beraubt wär dieser Platz
Um den insgeheimen Schatz!"

Und leicht mäulig durchheulte die Halme ein Wind ...
Doch wir wissen jetzt, wo wir uns finden, mein Kind!

Charlottenburg & das sechshundertdreiundfünfzigste Gedicht

Straße in Charlottenburg

Wandrers Nachtlied. Der Spreepark-Remix

Über allen Schienen
Ist Ruh,
Und in bemoosten Fahrkabinen
Ahnest du
Schlummern Fahrtwindturbulenzen.
Alle Statik
Starrt und knarrt
Dir und uns den Riesenrat:
Jeder stößt an seine Grenzen.

Vor dem Tore: Kassenhäuschen.
Die warten schon lange
Auf Wärter und Schlange
Und wundern sich: Kerl, wat'n krasset Päuschen!

Hier liegt
Des Vergnügens Mumie
Zu Ruinen aufgebahrt;
Die Dinos verrotten im Walde.

Warte nur, balde
endet auch für dich die Fahrt.

Hanuman-Languren & das sechshundertvierundvierzigste Gedicht

Hanuman-Languren

Ripostegedicht zum berlinerischen Kindergedicht "Der Klops"

Der Leberkäs

Da hock i, ess an Leberkäs
Es klopft, i brumm: "Wer's'n'dös?
Zur Brotzeit kimmt mia keina nei!"
I öffne nur mei Maul und schrei:
"Schleich di, du Lackl, sonst gibt's a Fotzn
Mann, isch tu disch inne Fresse rotzen!"
Und weitaus noch weniger freundliche Sachen
Entfahren samt Leberkäs-Fetzn mei'm Rachen
"Ja, mei", denk i, i denk: "ja, mei
Wos'n dös jetzt fia a bleedes Geschrei
Mit dem man mia hia mei Brotzeit versaut?!"
Ers war es leis, nu is es laut ...
Und i denk, wo i grad mei Pistoln schon wollt zieh':
"Der, wo hia schreit - dös bin ja i!"

Shiv Niwas Palace & das sechshundertdreiundvierzigste Gedicht

Shiv Niwas Palace

Ich, Maharadsch

Der Maharadsch
Kommt zurück von der Haddsch
Erfreut sich am Glück seines Reichtums und - platsch!
Klatscht er bäuchlings und glatt in das Wasserspiel rein
Ganz sanft in die Arme vom marmornen Stein
Und er prustet vor Spaß in des Spülwassers Gischt
Bis die Dienerschaft anrauscht und rasch ihm auf tischt:
Die Erlesenheit tausend und einzweier Nacht
Die köstlich garniert auf des Essgeschirrs Pracht
Vom Dekors porzellaner Schalen beschosst
In neckischen Häppchen den Körper liebkost

"Herr, herrlich ist es, Herr zu sein
Und durch das Mehr den hehren Schein
Um einen Strahl zu überbieten
Den Garten Eden anzumieten!
Wenn man Gottes Gaben nicht wahllos verteilt
Und all ihre Pracht nur bei einem verweilt
Lässt der Reichtum der Welt sich erst richtig versteh'n
Und in dem ihm schmeichelnden Lichte beseh'n
Dass all das nur mir gehört, macht daher Sinn
Dies alles, es gehört hier hin!
Ich bewahr als Maharadscha
Anmut vor der Brut der Grapscher!"

Worli Sea Link & das sechshundertachtunddreißigste Gedicht

Worli Sea Link

Pah!

Liebe Jogger und -innen - da rast'er!
Immer zwei Schritte schneller als ich, der Flaneur
Seid ein Pornofilm-japsendes Optikdesaster
Ich trag eure Schleppe voll Arbeitsodeur
Durch den an eurem Anblick erkrankenden Park
Den ich selbst kaum in Anspruch zu nehmen noch wag
Stiebt doch aus jedem Turnschuhtritt
Der Vorwurf: "Nun, ich halt mich fit!"

Ich werd anstatt zum Läuferleben
Doch eh'r zu dem der Säufer streben
Die zerstören sich selbst anstatt andre zu stören
Sind viel eleganter als trimmdumpfe Möhren
Der'n wackres Ackern unverhohlen
Sich abmüht, um mich einzuholen

Pah! Zur Herrlichkeit führt nur die Spur
Der ehrlichen Spazierkultur

Les Colombes & das sechshundertdreizehnte Gedicht

Les Colombes in der Heilig Geist Kirche

Von Herzen (doch im kleinen Rahmen)

Ich kaufte meiner alten Mutter
Eine Schaufel Taubenfutter

Auch eine Traubenzuckertafel
Verkraftete noch das Geburtstagsbudget
Einschließlich eines - laut Packungsgeschwafel -
Tagesbedarfes an Vitamin C

"So", sagte ich
"Das ist beides für Dich!"

Eine Schaufel voller Futter -
Gutes, das auch Tauben schmeckt!
Plus der Trauben Zucker, Mutter -
Wo noch Vitamin drin steckt!

"Ach, ich bat Dich doch nicht so viel auszugeben ...!"
Ich nick' nur mit Blick auf die Sachen, sag: "Eben!"

Isarkiesel & das sechshundertfünfte Gedicht

Isarkiesel

Uneinig

Gleicht nicht allein ein Ei dem andern,
Weil dies Ei gleichfalls jenem gleicht –
Ein Gleichungsweichensteller eifrig
Schon Ei-chen auf ihr Ei-Sein eicht?

Weiß irgendeiner, wann ein Ei –
Auf Stufe Eins der Gleicherei –
Die eigentliche Eier-Form
Bestimmte einst zur Eier-Norm?

Du weißt das nicht, wie ich Dich kenne!
Fragst immer noch, ob Ei, ob Henne –
Wer von den zwei'n war gleich dabei?
Es kommt drauf an, Mann, welches Ei!

Du meinst, da gleicht doch eins dem andern?
Zurück zur ersten Zeile wandern!

Kleinkram & das sechshundertdritte Gedicht

Kirche von Väterchen Timofej

Dem Detail

Und doch habe ich nie an der Schönheit gezweifelt
Ich vermisste nur etwas Verstand
Und böt' sich die zweite Chance, blieb es dabei, Welt:
Ich behielt' diesen zahnlosen Trumpf auf der Hand
Um ihn mir stündlich anzuseh'n
Und sein täglich Erwachen zu preisen
Das Wissen genießend, hier richtig zu steh'n
Und schmähendes Mitleid strikt von mir zu weisen

Denn niemals hat diese Schönheit an Wert eingebüßt
Nur sie traf nicht sehr oft auf Versteh'n
Sie hat unbeirrt weiter die Ahnung versüßt
In den totesten Winkeln vom Tagesgescheh'n
Dem trüben Blick fehlt das Detail
Doch entscheidet nicht er, ob es da ist
Sein Urteil ist auch gar nicht nötig mehr, weil
In diesem Moment Du schon ungewohnt nah bist!

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